Dokufiktion im Roman

Im von Lukas Domcik geschriebenen Exposé wird die Lebensgeschichte der Emma Theodora Elfriede von Westerbrink erzählt. Mit der zu großen Teilen frei erfundenen Geschichte soll der Eindruck erweckt werden, dass die Hauptfigur eine Tante der Autorin Rachel Levison wäre. Gerade diese Konstellation verweist schon auf ein Hauptmerkmal der Dokufiktion. Authentisch soll die Geschichte schon durch den Umstand wirken, dass die Autorin exklusiv das Schicksal ihrer eigenen Tante präsentiert. Glaubwürdigkeit entsteht durch persönliche Nähe, die dann häufig mit historischer Wahrheit verwechselt wird. Erzählt wird eigentlich nur ein Einzelschicksal. Es ist logisch, dass diese Sichtweise höchst subjektiv ist. Dabei belässt es die Dokufiktion allerdings nicht. Auch im konkreten Beispiel aus dem Roman Modicks will man am Beispiel einer „tapferen Frau“ eine „tausendjährige Zeit“ (Modick: Bestseller. S. 179) beschreiben. Im Leben der Tante wird nun alles untergebracht, was Spannung und Aufregung verspricht. Die spektakulärsten Ereignisse und Konstellationen sind gerade gut genug. Anspruch ist ja letztlich, die ganze NS-Zeit am Schicksal der Tante wieder auferstehen zu lassen. Beeindruckt soll der Leser auf das Leben der Gräfin blicken.

Domcik beschreibt zu Beginn des Romans die Kindheit der Tante. Mit vielen Klischees illustriert er die Idylle des ostpreußischen Landlebens. So stellt er die kleine Thea als sehr intelligentes Mädchen mit blonden (!) geflochtenen Haaren dar. Ihre Familie hatte sieben Kinder, eine unüberschaubare Geschwisterschar. Die Botschaft ist klar. Hier, in der heilen Welt Ostpreußens, gelten Kinder noch als Segen. Die gesamte Familie ist natürlich deutschnational und kaisertrau, so wie man sich den alten preußischen Landadel eben vorstellt. Die „heile Welt“ wird durch idyllische Naturschilderungen verstärkt. Thea war die beste Reiterin des Gestütes und hatte jedes der Tiere ins Herz geschlossen. Im Sommer fuhr man mit der Kutsche, im Winter mit dem Schlitten, so wie es seit Jahrhunderten üblich ist. Die hektische moderne Zeit scheint spurlos am ostpreußischen Landleben vorbeigegangen zu sein. Hier werden, typisch für die Dokufiktion, Sehnsüchte der Leser bedient. Viele von ihnen wünschen sich, in einer so sorgenlosen Welt zu leben. Um dem Ganzen noch etwas Würze zu geben, sorgt der Autor noch für eine kleine Liebesgeschichte. Wie so oft ist es der jugendliche Hauslehrer („exotisch anmutender Mann“ / Modick: Bestseller. S. 181), der aus der Hauptstadt in die ländliche Einöde kam und in den sich Thea sofort verliebte.

Allein diese bisher genannten Ereignisse wären natürlich zu langweilig. Deshalb verknüpft Domcik das Schicksal seiner Heldin mit den Wirren der Zeit. Thea gerät mitten in die Auseinandersetzung zwischen rechts- und linksgerichteten politischen Kreisen und landet schließlich durch eine schicksalhafte Fügung (SA-Männer retten sie aus der eiskalten Ostsee.) bei den Nationalsozialisten. Weil es ja allseits bekannt war, dass weite Kreise des Adels verächtlich auf den brauen Mob blickten, nutzt der Autor diese Gelegenheit, um das Zerwürfnis Theas mit ihrer Familie zu motivieren. Historisch gesehen ist das glaubwürdig und der Story gibt es zusätzlichen Pep. So etwas lässt sich der Autor einer Dokufiktion nicht entgehen.

Thea studiert später Tiermedizin (Liebe zum Tier kommt beim Leser meist auch immer gut an.) und heiratet einen Redakteur des „Völkischen Beobachters“. Die Hochzeitsreise führt sie auf dem Vergnügungsdampfer „General von Steuben“ zu den Fjorden Norwegens. Dieses Handlungselement wird eingebaut, um die NS-Zeit weiter zu illustrieren. Die „Kraft-durch-Freude“-Bewegung gehört zu den spektakulären Initiativen der brauen Machthaber. Weiterhin entsteht durch die Einführung der „Steuben“ eine Verknüpfungsmöglichkeit zu den Ereignissen in den letzten Wochen des Krieges. Hier wird die „Steuben“ als Flüchtlingsschiff eingesetzt. Thea will mit dem Schiff aus ihrer ostpreußischen Heimat in den Westen fliehen und entkommt nur knapp dem Tod, als die „Steuben“ von einem russischen U-Boot versenkt wird. Schiffsuntergang, tausende Tote, schicksalhafte Verknüpfung mit einem sagenumwobenen Schiff – das ist das Repertoire, aus dem sich der Autor einer Dokufiktion gern bedient.

Doch noch ist der Krieg ja nicht beendet. Thea zieht mit ihrem Mann nach München (natürlich in die Villa eines enteigneten jüdischen Zahnarztes), engagiert sich im BDM, sieht Hitler auf den Nürnberger Reichsparteitagen, verliert ihren Mann an der Ostfront durch „Fehlfeuer aus den eigenen Reihen“ (Modick: Bestseller. S. 184), arbeitet als Assistentin in einem Lebensborn-Heim (egal, was an den „Zuchtfarmen“ der SS wirklich dran ist, die Leute interessiert sowas natürlich) und beschließt nach einer unglücklichen Affäre mit einem verheirateten Arzt wieder in die alte Heimat zurückzukehren. Irgendwie hat es Domcik geschafft, zahlreiche spektakuläre Themenfelder der NS-Zeit mit seiner Hauptfigur zu verknüpfen – typisch Dokufiktion eben.

Thea reist also über Berlin nach Ostpreußen und besucht in der Hauptstadt eine Freundin. Diese versteckt in ihrer Berliner Villa jüdische Flüchtlinge. Da wir den Problemkreis Widerstand gegen das NS-Regime noch nicht hatten, ist fast zu erwarten, dass sich Thea, die überzeugte BDM-Führerin, jetzt für die verfolgten Juden einsetzt. Wie immer geht auch diese Episode nicht ohne eine Liebesgeschichte. Thea verliebt sich in den jüdischen Arzt Samuel Levison, dem sie zur Flucht nach England verhilft. Hier wird noch einmal ein typisches „Strickmuster“ von Dokufiktionen deutlich. Ein möglichst breites Publikum soll angesprochen werden. Und wer sich eben nicht für den Widerstand in der NS-Zeit interessiert, der findet vielleicht Gefallen an der „verbotenen Liebe“ zwischen der arischen Thea und dem jüdischen Samuel. Nur in dieser Mischung, so eine Grundüberzeugung des Autors, ist man bei einem breiten Publikum erfolgreich. Samuel gelingt die Flucht nach England. Thea bleibt in Deutschland.

Domcik benötigt die Hauptfigur noch für wichtige Handlungsabschnitte in seiner Geschichte. Widerstand als Thema erhält natürlich nochmal einen besonderen Reiz, wenn die Widerständler irgendwann von der Gestapo verhaftet werden. 1944 ereilt Thea dieses Schicksal. Aber sie kommt schon bald wieder frei, weil sie ja das Kriegsende in Ostpreußen noch erleben muss. Einmarsch der Russen, Flucht auf der „Steuben“, Schiffsuntergang, Rettung und danach Gefangenschaft in einem Internierungslager der Alliierten – das sind die Stationen, die der Autor für seine Hauptfigur arrangiert. Aus dem tristen Lager wird Thea natürlich nicht einfach so entlassen. Das wäre zu unspektakulär. Samuel Levison kommt aus London nach Deutschland und befreit seine Retterin. Auch dieses Detail der Handlung zeigt, dass die Dokufiktion bewusst mit Klischees arbeitet. Die Rettung einer hilflosen, schwachen Frau durch einen heldenhaften Mann, der keine Mühen scheut, um für seine Liebste einzutreten, gehört seit Jahrhunderten zu den Grundkonstellationen der Unterhaltungsliteratur. Thea geht mit ihrem Retter nach England und heiratet ihn. Alle, die ein Happy end erwartet haben, können sich spätestens hier beruhigt zurücklehnen. Der Autor weiß, was Leser von einer guten Dokufiktion erwarten. Samuel stirbt 1982 und Thea bleibt den Rest ihres Lebens allein. Als man sie in der Seniorenresidenz am 12. April 2005 tot auffindet, hat sie ein Foto Samuels in ihrer rechten Hand. Besser geht’s nimmer…

Maximilian W. / Sebastian H.

Merkmale der Dokufiktion "Vom Memelstrand zum Themseufer"
Verbreitung von Wissen anhand fiktiver Beispiele wichtige Ereignisse der NS-Zeit werden zum Gegenstand gemacht, die Geschichte Theas allerdings ist (fast) frei erfunden
orientiert sich an den Maßstäben der Unterhaltungsindustrie und damit am Geschmack einer breiten Leserschaft gezielte Auswahl von spektakulären Details der NS-Geschichte, Verknüpfung der historischen Darstellung mit einer Liebesgeschichte
Leser sollen nicht durch übergroße Differenziertheit verschreckt werden Verwendung zahlreicher Klischees (Hier klicken!) [425 KB]


Denise / Anna