09. Februar 2024

1. Junior Science Café

Pisa-Schock, KI und Bildungsselektion. Wie muss sich Schule verändern? Das fragen Schüler Experten und stellen das Bildungssystem auf den Prüfstand.

Obwohl der Unterricht längst vorbei ist, herrscht am späten Dienstagnachmittag im Lessing-Gymnasium Döbeln noch einiger Trubel in den Schulfluren. Neben Schülern, Lehrern und Eltern sind Bildungsforscher zu Gast und stellen sich in einer Podiumsdiskussion und anschließend im Stehcafé den Fragen der Schüler. In einer Arbeitsgemeinschaft haben vier Schüler den Abend vorbereitet, Experten eingeladen, Thema und Fragen formuliert. „Herzlich willkommen zu unserem ersten Junior Science Café!“, begrüßen die Schülerinnen und Mitorganisatoren Melanie Riedel und Michelle Müller die Anwesenden in der Aula. Auf dem Programm stehen fünf Themen rund um die Schule.

v.l.n.r.: Prof. Sven Hofmann (Universität Leipzig, Didaktik der Informatik), Michael Höhme (Schulleiter Lessing-Gymnasium Döbeln), Prof. Dr. Maria Hallitzky (Universität Leipzig, Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik des Sekundarbereichs), Melina Riedel (Moderation Junior Science-Café), Dr. Frank Beier (TU Dresden, Wiss. Mitarbeiter des Zentrums für Lehrerbildung, Schul- und Berufsbildungsforschung)

Eröffnet wird die Runde mit den Pisa-Schreck-Ergebnissen. Wo in den Schulen der größte Handlungsbedarf bestehe, fragen die beiden Schülerinnen die Diskussionsrunde. Maria Hallitzky, Professorin für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik, betont, wie wichtig individuelle Förderung sei. Kultus-Amtschef Wilfried Kühner sieht im Unterrichtsausfall durch den Lehrermangel ein großes Problem. Hinzu käme, dass die Schülerschaft mittlerweile sehr heterogen sei. „Wir hoffen auch, das digitale Potenzial und beispielsweise KI-gestützte Tools künftig besser nutzen zu können, da muss noch viel entwickelt werden.“

Aus den schlechten Pisa-Ergebnissen schlussfolgert Thomas Langer, Vorsitzender des Philologenverbandes Sachsens: „Für die Leistungsschwächeren, die immer mehr abgehängt werden, brauchen wir mehr Förderung, andererseits sehen wir, dass auch die Leistungsspitze schrumpft.“ Das müsse allen zu denken geben. „Für mich ist im Grunde genommen das Allerwichtigste die Sprachförderung“, so der Philologe.

Auch das richtige Maß von Lernstoff und kompetenzorientiertem Unterricht und die Rolle Künstlicher Intelligenz (KI) diskutieren die Experten intensiv. Thomas Langer bricht eine Lanze für den Lernstoff: „Trotz und gerade in Zeiten von KI brauchen Schüler ein solides Wissen, um sichere Quellen ausmachen zu können.“

v.l.n.r.: Wilfried Kühner (Amtschef des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus), Thomas Langer (Vorsitzender des Philologenverbands Sachsen)

Als eine weitere Herausforderung neben vielen anderen nennt der Schulforscher Frank Beier auch das Thema Migration. Maria Hallitzky sucht den internationalen Vergleich. „Der Unterricht in Deutschland beschränkt sich häufig auf einfache Anwendungsaufgaben. Wir müssen überlegen, wie wir die Schüler wirklich zum Tüfteln bringen.“

Ein Zitat des Pisa-Chefs Andreas Schleicher, der eine Rundumkritik an die Lehrer in Deutschland austeilt, dient als nächste Diskussionsgrundlage. Wie sehen die Rolle von Lehrer und Lehrplan aus? Wo haben Lehrer Spielräume? Schulleiter Michael Höhme ist der Meinung, „wenn Lehrer Spielräume haben, wird es pädagogisch besonders spannend“, was die Erfahrungen gerade im Profilunterricht zeigen.

Über den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Unterricht diskutieren die Experten besonders ausgiebig. Frank Beier, der selbst jeden Tag Chat GPT nutzt, betont die Vorteile Künstlicher Intelligenz, die den Menschen oft überlegen sei und kaum Fehler mache. Beier hebt wie Thomas Langer den Nutzen im Fremdsprachenbereich hervor, zum Beispiel durch KI-gestützte Simultanübersetzung oder qualitativ sehr gute und ausgefeilte Sprachlernapps wie Duolingo. „Als Englischlehrer bin ich davon begeistert“, so Langer. Für Maria Hallitzky hat die Technik Grenzen. „Die Grenze von KI ist da, wo die Lehrer-Schüler-Beziehung anfängt. Für Konfliktlösungen und all das Zwischenmenschliche sind Lehrer die Ansprechpartner in der Schule.“

Zahlreiche Gäste interessierten sich für die Zukunft von Schule in Deutschland.

Auch den Sinn von Noten im Schulsystem haben die Schüler hinterfragt. Dass die individuelle Leistung auf eine Zahl reduziert wird, sei ambivalent und defizitorientiert, darin ist sich die Runde einig. Maria Hallitzky wirbt dafür, Noten so spät wie möglich zu erteilen. „Noten fördern mehr den Vergleich innerhalb der Klasse als die individuelle Leistungsförderung.“ Schulleiter Höhme verteidigt das System, trotz berechtigter Kritik, als pragmatische Lösung. Dem stimmt auch Sven Hofmann zu. „Solange wir eine Leistungsgesellschaft sind, kommen wir um Noten nicht herum“, so der Professor der Uni Leipzig.

Ob das sächsische Schulsystem, in dem bereits nach der vierten Klasse die Entscheidung für Gymnasium oder Oberschule fällt, sinnvoll ist oder Bildungsungerechtigkeit fördert, diskutierte die Runde zum Schluss. Hallitzky betont den sozialen Aspekt des gemeinsamen Lernens und dass Schüler von gemischten Gruppen profitieren würden. Außerdem gebe es immer auch Spätentwickler, für die die Weichen im Alter von neun oder zehn Jahren zu früh gestellt werden.

Darin sieht auch Sven Hofmann das größte Problem: „Die Frage ist, wie leicht man als Schüler zwischen den Schulformen wechseln kann. Aber das System ist oft nicht durchlässig genug, das ist die Crux.“ Schulleiter Michael Höhme verteidigt hingegen das gegliederte Schulsystem in Sachsen, das Gründe habe. „Der Leistungsstand von Kindern in der vierten Klasse ist extrem heterogen. Dem müssen wir als Lehrer auch gerecht werden, indem wir sie entsprechend fördern“, erklärt er.

Nach der Podiumsdiskussion ergaben sich interessante Gespräche zwischen den Experten und den Gästen der Veranstaltung.

Thomas Langer befürchtet, dass mit dem Hinauszögern der weiterführenden Schulart bis zur sechsten Klasse die Grundschule auch fachlich verlängert wird. Von gemeinsamen Schulformen sei er kein Freund. „In Berlin gibt es beispielsweise viele Gesamtschulen. Da schicken viele Eltern ihre Kinder dann doch lieber auf die Privatschule.“ Auch das Konzept von Gemeinschaftsschulen hält er für nicht realistisch. Frank Beier fügt hinzu, dass viele soziale Filter bestimmen, ob ein Schüler das Gymnasium oder die Oberschule besucht. Zudem gebe es auch nicht die eine homogene Schulklasse. Und im Ausland sorge das deutsche Schulsystem sogar für viel Verwunderung. „Mit der Selektierung geht Deutschland einen Sonderweg.“ Kultus-Amtschef Wilfried Kühner hält fest, dass das Thema immer wieder kontrovers bleibt. Dennoch meint er: „Das Schulsystem in Sachsen ist durchlässig.“

Nach guten anderthalb Stunden schließen die Moderatorinnen die Diskussionsrunde. Viele Schüler gehen danach noch auf die Experten zu und stellen ihnen, gespannt in kleiner Runde oder locker bei einem Kaffee Fragen. Die nächsten Junior Science Cafés planen die vier Schüler der Arbeitsgemeinschaft bereits, „auch zu anderen Themen, darauf freuen wir uns schon“, so Michelle Müller.

Döbelner Anzeiger
Annemarie Banek
09.02.2024

Fotos: LGD

Die Veranstaltung wurde vom Förderverein der Schule unterstützt. Zahlreiche Mitglieder des Vereins waren unter den Zuschauern.