10. Januar 2020

Indische Weisheiten für Döbelner Pennäler

Johannes Hertel (1872–1955) hatte von 1919 bis 1937 als ordentlicher Professor den Lehrstuhl der Indologie an der Universität Leipzig inne. Davor unterrichtete der Philologe 17 Jahre am Königlichen Realgymnasium in Döbeln. Kürzlich erworbene Dokumente zu seiner Berufung durch das Sächsische Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts von 1901 und 1902 waren Anlass für eine Spurensuche.

Johannes Hertel wird am 13. März 1872 in Zwickau geboren. Er besucht von Ostern 1878 bis Ostern 1882 die mittlere Knabenschule, bis Michaelis 1885 das Gymnasium und bis Ostern 1891 das Realgymnasium seiner Vaterstadt, das er mit dem Reifezeugnis verließ. Seiner Dienstpflicht beim Militär genügte er von Ostern 1892 bis Ostern 1893. Danach ist er Unteroffizier der Landwehr und widmet sich wieder seinen Studienplänen. Um die verwirklichen zu können, stellt er sich im Herbst 1893 einer Prüfung, durch die er ein Reifezeugnis des humanistischen Gymnasiums zu Zwickau erwirbt. Jetzt konnte es losgehen.

Zwickau - Albertplatz mit Realgymnasium


Hertel studiert von 1893 bis 1897 Philologie an der Universität Leipzig. Besonders widmet er sich dem Studium der Indologie bei Professor Ernst Windisch (1844-1918), mit dem die Indologie in Leipzig eine Blütezeit erreichte. Da Hertel wohl klar ist, dass sich die Hoffnung auf eine Karriere an der Universität nur wenigen erfüllt, stellt er sich Ostern 1896 in Leipzig der Prüfungskommission für Kandidaten des höheren Schulamts und erhielt ein sog. „bedingungsloses Oberlehrerzeugnis“.

Hertel hat große Pläne. Er will promovieren und gleichzeitig als Lehrer erstes eigenes Geld verdienen. Von Ostern 1896 bis Ostern 1902 unterrichtete er an seiner alten Schule, dem Realgymnasium Zwickau. Eingestellt als „Probandus und wissenschaftlicher Hilfslehrer“ wird er schon bald „provisorischer Lehrer“, dann „ständiger wissenschaftlicher Lehrer“ und letztlich Oberlehrer. Die ersten Schritte seiner Laufbahn als Pädagoge waren gemacht.

Universität Leipzig und Mendebrunnen - ca. 1890-1900
Nach wie vor im Buchhandel verfügbar. Die "Hitopadesa" von Johannes Hertel.


Gleichzeitig promoviert er 1897 an der Universität Leipzig mit einer kritischen Ausgabe der Erzählungssammlung Hitopadeśa. Der indische Text, in Sanskrit verfasst, enthält Fabeln und Lebensweisheiten. Schon während seines Studiums und während seiner Zeit als Lehrer in Zwickau hat Hertel durch verschiedene Publikationen auf sich aufmerksam gemacht. Wissenschaftliche, insbesondere pädagogische Abhandlungen und Aufsätze erscheinen in der „Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft", der „Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes", den „Pädagogischen Studien". 1895 gibt er „Hitopadeśa. Die freundliche Belehrung. Eine Sammlung indischer Erzählungen und Sprüche“ beim Reclam-Verlag in Leipzig heraus. 1896 bearbeitet er die „Vergleichende Grammatik der klassischen Sprachen. Ein kurzes Handbuch für Studierende d. klass. Philologie von P. Giles“. Während seiner Zwickauer Zeit erscheint 1900 „Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon, par A. Daudet“. Der Cotta-Verlag in Stuttgart veröffentlicht von ihm aus dem Sanskrit übertragene „Indische Gedichte“. Die für den Schulgebrauch von Hertel bearbeiteten „Lettres de mon Moulin par“ erscheinen 1902 bei Renger in Leipzig und die Abhandlung „Über die Jaina-Recensionen des Pancatantra“ im selben Jahr in einer „Abhandlung der philosophisch-historischen Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften“.

Dokumente zur Berufung des Oberlehrers Johannes Hertel an das Realgymnasium Döbeln 1901/02 - Schularchiv G.-E.-Lessing-Gymnasium Döbeln


Wahrscheinlich nicht zuletzt wegen dieser publizistischen Umtriebigkeit beruft man Hertel 1902 an das Königliche Realgymnasium Döbeln. Vermittelt hat das Dr. Theodor Vogel (1836-1912), vortragender Rat im Königlich-Sächsischen Kultusministerium. In einem persönlichen Brief dankt er Hertel, dass dieser einen Ruf nach Frankfurt ausgeschlagen hat, womit er "Anhänglichkeit an [sein] engeres Vaterland" bewiesen habe. Um die Bindung Hertels an Sachsen zu stärken, offeriert der sächsische Kultusminister Paul von Seydewitz (1843-1910) dem Oberlehrer in einem maschinenschriftlichen Ankündigungsbrief auch gleich eine Gehaltserhöhung. Sein Salär würde ab 01. Juni 1902 von 2800 auf 3200 Mark jährlich steigen. Auch die durch den Umzug von Zwickau nach Döbeln entstehenden Kosten kann Hertel geltend machen. 3200 Mark Jahresgehalt im Jahr 1902 entsprechen vom Geldwert her heute ca. 29 920 Euro. 2493 Euro monatlich wären das. Für die damaligen Verhältnisse ein durchaus ordentliches Einkommen.
Die Verpflichtung Hertels geschieht auch vor dem Hintergrund einer weiteren Professionalisierung des Döbelner Gymnasiums. Man versteht sich schon damals als allgemeinbildende Schule, führt aber 1907 ein duales System ein, bei dem sich die Schüler in der Prima (Unterprima = Jahrgang 12 / Oberprima = Jahrgang 13) entscheiden können, ob sie in einem sprachlich-historischen oder einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig lernen wollen. Diese Untergliederung in a- und b-Klassen hat lange Bestand. Hertel ist natürlich für die vertiefte sprachliche Ausbildung zuständig, unterrichtet in Döbeln Deutsch, Latein und Französisch.

Lehrerkollegium des Königlichen Realgymnasiums Döbeln 1904, Dr. Johannes Hertel (letzte Reihe 2.v.l.) - Schularchiv G.-E.-Lessing-Gymnasium Döbeln


Neben einer guten Lehrtätigkeit hat man an Gymnasiallehrer in dieser Zeit auch noch andere Erwartungen. Auch denen muss Hertel in Döbeln gerecht werden. Der 36. Jahresbericht der Schule von 1905 berichtet: „Zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers fand am Vormittage des 27. Januar in der Zeit von 8 – 9 Uhr ein interner Schulaktus statt. Herr Dr. Hertel gab in seiner Festrede eine Darstellung des Verhaltens der französischen Presse während des deutsch-französischen Krieges im Jahre 1870. Eingeleitet wurde der Aktus durch einen Choral und die Deklamation mehrerer den Kaiser und das deutsche Reich feiernde Gedichte. Den Schluss bildete der gemeinsame Gesang des Liedes: „Deutschland, Deutschland über alles“. Am Nachmittag fiel der Unterricht aus, da das Lehrerkollegium sich nahezu vollzählig an dem zu Ehren des Kaisers abgehaltenen offiziellen Festessen beteiligte.“

Königliches Realgymnasium und Höhere Landwirtschaftsschule Döbeln - um 1910 (Ausschnitt aus einer Postkarte)


Flammende Reden über den Kaiser und den Erzfeind Frankreich werden Hertel nicht schwergefallen sein. Politisch deutsch-national geprägt, ist er bis 1918 Mitglied der Deutschkonservativen Partei. Viele Mitglieder dieser Partei schließen sich nach dem Ersten Weltkrieg der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an.

Was kann man den Schulanalen noch über Hertel entnehmen? Wenig. Einige Zeit leitet er den Stenografenverein. Im Vergleich zu vielen seiner Kollegen tritt er in den Jahresberichten relativ selten als Organisator schulischer Aktivitäten in Erscheinung. Das hat einen Grund.

Hertel kann sich auch im ländlichen Döbeln nicht von seiner großen Leidenschaft, der Indologie, lösen. Jede freie Minute verbringt er mit dem Lesen von Quellen und Publikationen und er schreibt selbst Aufsätze, übersetzt indische Schriften und veröffentlicht sie. Er wird als Indologe deutschlandweit geschätzt.

Im Mai 1905 erhält er „in Anerkennung seiner Verdienste und zur Fortsetzung seiner Arbeiten auf dem Gebiete der indischen Märchenliteratur von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin“ das Bopp-Stipendium.

Lehrerkollegium des Königlichen Realgymnasiums Döbeln zwischen 1909-17, Dr. Johannes Hertel (stehend 2.v.l.) - Schularchiv G.-E.-Lessing-Gymnasium Döbeln


Auch im Königlich-Sächsischen Kultusministerium weiß man die wissenschaftlichen Aktivitäten des Döbelner Lehrers zu schätzen und ist bereit, ihn bei seinen Forschungen zu unterstützen – nicht nur mit „warmen Worten“, sondern mit dem, was er am dringendsten braucht - Zeit. Im 38. Jahresbericht des Gymnasiums wird 1907 vermerkt: „Mit Beginn des Winterhalbjahres wurde unserer Schule der Kandidat des höheren Lehramtes, Herr Dr. Schröter, als Aushilfskraft und zur Beendigung seines Probejahres zugewiesen, da das Hohe Ministerium auf Antrag der Leipziger Gesellschaft der Wissenschaften genehmigt hatte, dass die wöchentliche Stundenzahl des Herrn Oberlehrer Dr. Hertel auf 9 herabgesetzt werde, damit er Zeit finden könne, seine wertvollen wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiete des Sanskrit, über die indische Märchenliteratur in den nächsten Jahren zu Ende zu führen.“

Als Classic-Reprint auch heute noch erhältlich - "Das Pañcatantra" von Johannes Hertel.


Das großzügige Entgegenkommen des Ministeriums lohnt sich. Im Juli 1910 verleiht ihm die Königlich Bayrische Akademie der Wissenschaften in München für seine „wertvollen und bedeutenden Arbeiten zur Kritik und Geschichte des Pantschatantra“ den Hardy-Preis. Seine Döbelner Kollegen staunen, einige blicken bewundernd auf Hertel, andere sicher neidvoll. Rektor Curt Schmidt vermerkt im 42. Jahresbericht der Schule: „Wir haben diese ehrenvolle Auszeichnung unseres gelehrten Amtsgenossen mit freudiger Genugtuung begrüßt.“

1914 erscheint „Das Pañcatantra, seine Geschichte und seine Verbreitung“. In ihm rekonstruierte Hertel die älteste erhaltene Textfassung der Fabel- und Märchensammlung Pañcatantra und untersuchte die Geschichte ihrer Verbreitung über Persien und den Vorderen Orient nach Europa. Das Werk stellt den Höhepunkt im Schaffen Hertels dar und ist 1919 der zentrale Grund dafür, dass man -eigentlich ungewöhnlich- einen einfachen Gymnasiallehrer als Professor für Indische Philologie an die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig beruft. Hertel folgt den Ruf natürlich sofort, die Indologie ist seine große Leidenschaft. Das Döbelner Gymnasium verliert einen guten Lehrer, die Universität Leipzig gewinnt einen Professor für Indologie, der die große akademische Tradition dieser Fachrichtung in Leipzig weiterführen kann.

Hertel prägt in den Jahren von 1919 bis 1937 die Indologie an der Universität Leipzig.


Hertel lehrt asiatische und indogermanische Sprachen wie Sanskrit, Vedisch, Neuindisch und Altiranisch und übersetzt zahlreiche Schriften aus diesen ins Deutsche. Zudem gibt er die Reihe Indo-Iranische Quellen und Forschungen heraus. Sein Forschungsschwerpunkt bleibt die indische Erzählliteratur, deren Geschichte er in ihrer Ganzheit erfassen möchte. „Er darf für sich in Anspruch nehmen, uns diesem Ziel ein großes Stück näher gebracht zu haben. Es muß darauf hingewiesen werden, daß Hertel einer der ganz wenigen Indologen seiner Zeit war, die ihr Forschungsfeld auf die neuindischen Sprachen ausdehnten. Hertel war der erste Indologe, der die Überlieferung altindischen Märchengutes bis in die älteren Stadien der neuindischen Volkssprachen hinein verfolgte.“

Die Zwanziger sind auch für den Wissenschaftler Hertel „goldene Jahre“. Die gesellschaftlichen Veränderungen in der Weimarer Republik betrachtet er jedoch skeptisch. Was sein Fachgebiet betrifft, zeigen einige seiner Bemerkungen Verständnislosigkeit für die damalige indische Freiheitsbewegung, die sich der „segensreichen englischen Herrschaft“ entgegenstellen würde.

Auch seine Haltung zum Nationalsozialismus ist zwiespältig. In einem Brief an den Dekan der philologisch-historischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Leipziger Universität vom 11. Juli 1933 spricht er von „der gewaltigen Persönlichkeit eines Hitler“ und von „der gewaltigen Revolution, in der wir mitten inne stehen“ (Zit. nach MYLIUS, Bedeutende Traditionen , S. 61). Doch Hertel wird schnell geerdet. Schon bald führt er einen Prozess gegen den Verlag General Ludendorffs, weil er als akribisch arbeitender Philologe die hanebüchene These Mathilde Ludendorffs, die Bibel sei nur eine schlechte Wiedergabe altindischer Schriften, nicht unwidersprochen lassen will. Fachlich versucht Hertel, einem Trend der Zeit folgend, die „arische Urreligion“ zu rekonstruieren und entwickelt eine eigene Theorie der „arischen Feuerlehre“ als Zentralprinzip arischer Weltanschauung. Diese Theorien sind besonders im Ausland sehr umstritten. Hertel reagiert auf die Kritik wenig konstruktiv, beharrt auf seinen Positionen.

Bis ins hohe Alter erhielt sich bei Prof. Hertel das Interesse an seinem Forschungsgegenstand. - Archiv der Universität Leipzig (UAL:FS_N00888-1)


Nach wie vor ist er ein Wissenschaftler mit hoher Reputation, ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Royal Asiatic Society in London. Anderseits sind seine Lehrveranstaltungen nicht mehr gut besucht, in seinen letzten Jahren als Hochschullehrer ist er zunehmend isoliert. Am 31. März 1937 wird er mit 65 Jahren emeritiert.

Nach seinem Ausscheiden erweist Hertel seiner Universität noch einmal einen großen Dienst. 1943 wird das Indische Institut mit seiner gesamten Bibliothek bei einem Luftangriff ein Raub der Flammen. Nach dem Krieg gelingt es durch den Erwerb des Hertelschen Nachlasses einen Grundstock für eine neue Bibliothek zu schaffen, der für die Lehre und auch für die wissenschaftliche Arbeit von großer Bedeutung ist. Noch heute werden die Bücher und Handschriften aus der Bibliothek Hertels am Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften in der Leipziger Schillerstraße von Studenten und Hochschullehrern genutzt.

Johannes Hertel stirbt am 27. Oktober 1955 und wird auf dem Leipziger Südfriedhof beerdigt. Seine umfangreiche Korrespondenz befindet sich im Universitätsarchiv Leipzig bzw. in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig.

Grabstein Hertels auf dem Leipziger Südfriedhof, Wikimedia Commons, Trainspotter, 24. Juni 2007


Michael Höhme
10.01.2020


Quellen:
Geschichte der Universität Leipzig1409–2009, Band 4 Fakultäten, Institute, Zentrale Einrichtungen 1. Halbband, Kapitel Indologie und Zentralasienwissenschaften
https://www.gko.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/indologie/pdf/Geschichte.pdf, Datum: 15.12.2019
Art:Johannes Hertel in: Professorenkatalog der Universität Leipzig / Catalogus Professorum Lipsiensium, Herausgegeben vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar der Universität Leipzig. Link: https://research.uni-leipzig.de/catalogus-professorum-lipsiensium/leipzig/Hertel_59 Datum: 15.12.2019
http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Hertel_(Indologe)
http://www.saw-leipzig.de/mitglieder/hertelj
Dokumente aus dem Schularchiv des Lessing-Gymnasiums Döbeln - Berufung des Sächsischen Ministeriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts für den Oberlehrer am Realgymnasium Zwickau und späteren Indologen Johannes Hertel (1872-1955) zum Oberlehrer am Realgymnasium Döbeln. signiert vom sächsischen Kultusminister Paul von Seydewitz, Ankündigung der Berufung von 1901, ebenfalls signiert von v. Seydewitz, sowie ein persönlicher Brief des Philologen Theodor Vogel (1836-1912) Dresden 1901 und 1902
Klaus Mylius, Bedeutende Traditionen der Indologie an der Universität Leipzig, in: WZ KMU 28 (1979), 47–66
34. Jahresbericht des Kgl. Realgymnasiums und der Höheren Landwirtschaftsschule zu Döbeln, Döbeln 1903
36. Jahresbericht des Kgl. Realgymnasiums und der Höheren Landwirtschaftsschule zu Döbeln, Döbeln 1905
38. Jahresbericht des Kgl. Realgymnasiums und der Höheren Landwirtschaftsschule zu Döbeln, Döbeln 1907
42. Jahresbericht des Kgl. Realgymnasiums und der Höheren Landwirtschaftsschule zu Döbeln, Döbeln 1911