21. November 2024

Der Obermarkt und ein vergessener Held

Der Obermarkt war immer ein Spiegel der Geschichte. Auch Döbelns Retter hatte dort ein Geschäft. Er ist heute fast vergessen. Warum eigentlich?

Der Obermarkt ist nicht nur Döbelns wichtigster Platz, sondern auch die Keimzelle der Stadt. Michael Höhme, Leiter des Lessing-Gymnasiums und Heimatforscher, hat sich intensiv mit dem Obermarkt beschäftigt und einen gut besuchten Vortrag gehalten.

„Die Stadtentwicklung beginnt im Osten und setzt sich in den Westen fort“, meint Höhme, wobei er aufs Mittelalter Bezug nimmt. Der Obermarkt ist auf Knochen gebaut, denn der damalige Nicolaifriedhof an der Kirche nahm einen großen Raum ein, bis die Begräbnisstätte vor das Obertor verlegt wurde.

Der Platz hat immer mal den Namen gewechselt. Ein Teil hieß Mittelmarkt, ein anderer Kornmarkt, bis der Platz irgendwann allgemein als Obermarkt bezeichnet wurde. Hier wurden Waren des täglichen Bedarfs gehandelt und Getreide von den umliegenden Dörfern. Er war auch Hinrichtungsstätte. „Eine Hinrichtung war damals ein Happening, das viele Menschen anzog. Die Leute hatten ein entspanntes Verhältnis dazu“, sagte Höhme.

Der Platz sei auch immer ein Spiegel der politischen Verhältnisse gewesen, hieß mal Hindenburgplatz, dann Roter Platz. Es gab Aufmärsche der Nationalsozialisten und in der DDR Vereidigungen von Soldaten der NVA.

Auch eines der Geschäfte, die seinerzeit am Obermarkt angesiedelt waren, erinnert an die Geschichte der Stadt. Im Haus Nr. 6 hatte Herbert Näcke Elektrowaren verkauft. Näcke gilt als Retter der Stadt. Als sich Anfang Mai 1945 die Rote Armee Döbeln näherte, fuhr Näcke mit dem Motorrad den sowjetischen Soldaten entgegen. Unter der Gefahr, als Verräter von den einen oder als Feind von den anderen erschossen zu werden. Er erreichte den kampflosen Einzug der Sowjets. Döbeln blieb unzerstört. „Es ist kein Schuss gefallen. Das haben wir Herbert Näcke zu verdanken. Warum er kein Ehrenbürger ist, weiß ich auch nicht. Hindenburg ist Ehrenbürger“, sagte Höhme.

Veränderungen hat es auf dem Obermarkt viele gegeben. Irgendwann wurde der riesige Wasserbottich des Röhrbrunnens, die zentrale Wasserversorgung, abgeschafft und an seiner Stelle die erste Gaslaterne errichtet. Das alte Rathaus wurde abgerissen und dafür ab 1910 ein neues gebaut. „Das war fast eine Nummer zu groß für Döbeln und hat über eine Million Reichsmark gekostet. Aber Döbeln ging es gut. Es war nach Leipzig die größte Industriestadt im Bezirk“, sagte Höhme.

Auf dem Obermarkt stand auch die Hauptwache der Garnison, als die Soldaten noch in Privatquartieren untergebracht waren. Nach Bau der Kaserne wurde sie abgerissen und ein Bismarckdenkmal gebaut. Als das 1945 nicht mehr erwünscht war, folgte ein Denkmal für die Verfolgten des Naziregimes, das später auf den heutigen Wettinplatz verlegt wurde. Ihm folgte „Lehmanns Schnellimbiss“. „Gestern Totengedenken, dann Bockwurst und Bier. Das war ein Umschwung“, meinte Höhme lakonisch.

Nur eine kleine Gasse gab es in Richtung Süden, wo eine Haltestelle der Bahn entstanden war. Um dem abzuhelfen, wurden 1890 zwei Häuser abgerissen. Die Königsstraße entstand, die nach wechselnden Machtverhältnissen später Rathenaustraße, Adolf-Hitler-Straße und Stalinstraße hießen. Nachdem letzterer nach seinem Tod in Verruf geraten war, wurde sie in Straße des Friedens umbenannt – ein Name, den sie bis heute behalten hat.

Anstelle der Hauptwache der Garnison wurde ein Denkmal für den Reichskanzler Otto von Bismarck errichtet. Heute ist hier der Biergarten des Hotels Bavaria.

Döbelner Anzeiger
Jens Hoyer
21.11.2024