Namensgeber
70 Jahre Lessing-Schule
Am 10. Oktober 1947 erhielt das Döbelner Gymnasium den Namen des berühmten deutschen Dichters. Das hatte Gründe.
In den ersten 78 Jahren ihrer Geschichte firmiert die Schule unter verschiedenen Bezeichnungen, lange als Königliches Realgymnasium, dann als Staatsrealgymnasium, seit 1938 als Staatliche Oberschule für Jungen. Diese Bezeichnung hält sich bis in die Nachkriegsjahre. Am 10. Oktober 1947, dem „Tag der deutschen Literatur“, erhält die Döbelner Bildungseinrichtung mit Zustimmung der Landesregierung den Namen „Lessing-Schule“.
Der Vorschlag geht auf Max Aßmann zurück, der 1946 als Lateinlehrer an die Schule kam. Wir wissen wenig über ihn. Überliefert ist eine persönliche Eigenart. Er nahm nie auf dem damals noch vorhandenen Podest, sondern an der ersten Schülerbank Platz. Die kleine Geste sollte zeigen, dass er seinen Schülern auf Augenhöhe begegnen wollte, sie steht für das Bemühen um ein neues Lehrer-Schüler-Verhältnis in Zeiten der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nun ist die Frage berechtigt, warum man hier in Döbeln 1947 auf die Idee kommt, eine der ältesten Schulen der Stadt nach Gotthold Ephraim Lessing zu benennen. Der Grund spiegelt sich in einem Ausspruch des Aufklärers wider, der heute noch im Foyer des Gymnasiums zu lesen ist: „Ohne die Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde immer mehr Menschen bewusst, wie groß das Unheil war, das Deutsche in diesem Krieg über die Welt gebracht hatten. Man schätzt, dass insgesamt 60 – 70 Millionen Soldaten und Zivilisten, darunter über 5 Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder, umkamen. Der Holocaust steht für einen moralischen Abgrund, der finsterer nicht vorstellbar ist. Es waren Menschen wie Max Aßmann, die nach dem ersten Schock die Frage stellten: Wie kann man einem Volk nach Jahren der ideologischen Verblendung wieder eine moralische Orientierung geben?
Schon im 18. Jahrhundert hatte es in Deutschland Menschen gegeben, die sich für die staatsbürgerliche Gleichstellung der deutschen Juden einsetzten, die dafür eintraten, dass man Menschen nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit benachteiligt oder verfolgt. Einer von ihnen war Lessing, ein junger Mann aus Kamenz, der in Meißen zur Schule gegangen war, in Leipzig studiert hatte und dann als Autor Stücke schrieb, in denen er sich gegen antijüdische Vorurteile und für religiöse Toleranz einsetzte.
In seinem Drama „Nathan der Weise“ fragte er, „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch?“ und empfiehlt "Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach!" Lessing ist eine gute „Medizin“ gegen den Antisemitismus und die Intoleranz von Menschen, die glauben, dass sie besser wären als andere. Er macht die Vernunft zum Kompass der Welterkenntnis. Auf diese guten Traditionen ihres Volkes sollten sich die Deutschen zurückbesinnen.
Solche oder ähnliche Gedanken werden Max Aßmann bewegt haben, als er 1947 den Vorschlag machte, seine Schule in Döbeln nach Lessing zu benennen. „Ohne die Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind!“ – ein Lessing-Satz - brandaktuell. Intoleranz, Rassismus und die Neigung zu irrationalen Verschwörungstheorien sind leider keine ausschließlich historischen Phänomene. Lessing wollte, dass die Menschen respektvoll und unvoreingenommen miteinander umgehen, dass sie ihren Verstand benutzen und dass sie ihren Nachbarn akzeptieren, auch wenn er einen anderen Glauben hat. Dafür einzutreten, lohnt sich auch heute noch.
Michael Höhme, 10.10.2017